Giona – vom Trauern und vom Weiterleben
Als Giona starb, nach einem kurzen Leben voller Stürme und Höhenflüge, hinterliess er eine unfassbare Lücke (vgl. «Giona – Vom Halten und vom Loslassen https://www.allani.ch/post/7-dezember). Milena Stoll hat gelernt, dass nicht nur Abschiednehmen Zeit braucht, sondern auch Trauern. Inzwischen fühlt sich die Trauer wie eine alte Freundin an. Sie steht für Milena für die Liebe zu Giona, die trotz seinem Tod immer ein Teil von ihr bleiben wird.
Von Milena Stoll *
«Am 7. Dezember war es ein Jahr her, dass Giona gestorben ist. Er ging ganz leise an einem Samstag. Ich erinnere mich noch genau an den Tag danach, Giona war noch keine 24 Stunden tot. Ich lag in meinem Bett. Seine Stimme war nicht mehr zu hören. Kein Rauschen vom Sauerstoffgerät, kein Piepsen vom Monitor. Nur Stille. Stille, die mich anzuschreien schien. Wie jeden Morgen, ging ich an sein Bett. Meistens haben wir noch gekuschelt, bevor wir in den Tag gestartet sind. Nun war sein Körper eine leere Hülle und kalt. Kälte und Starre erfassten auch meinen Körper.
Wir werden Gionas Stimme nie mehr hören, nie mehr seinen Geruch riechen und ihn an uns drücken. Am Anfang horchte ich manchmal auf, weil ich dachte, seine Stimme zu hören. Und noch immer halte ich ab und zu inne und spüre sein Fehlen.
Wir konnten seinen Tod lange nicht fassen. Ich glaube, das muss so sein. Denn wenn wir den Tod eines Menschen von Anfang an in seinem ganzen Ausmass erfassen würden, wäre das zu viel für uns. Wir erfassen den Verlust tröpfchenweise.
Wenn wir den Tod eines Menschen von Anfang an in seinem ganzen Ausmass erfassen würden, wäre das zu viel für uns.
Für uns war die Leidenszeit von Giona schwerer zu ertragen als sein Tod. Sein Leiden, sein Weinen, seine Krämpfe, seine schwere Atmung und unsere Ohnmacht. Das bedeutet nicht, dass es jetzt nicht schwer ist. Es ist einfach anders, als laufe in meinem Leben immer eine melancholische Hintergrundmelodie, mal lauter, mal leiser. Es kommt vor, dass sie in meinen glücklichsten Momenten laut wird, und dann mischen sich Freude und Schmerz, wie ein bittersüsses Getränk.
Die Trauer ist für mich inzwischen wie eine alte Freundin. Manchmal lade ich sie bewusst ein, und manchmal überrascht sie mich. Dann lasse ich mich entweder auf sie ein oder versuche, sie auf später zu vertrösten. Doch vertrösten funktioniert nicht immer. Manchmal sagt sie zu mir: «Ich gehe nicht, bevor du dir Zeit für mich genommen hast.» Vielleicht mag es komisch erscheinen, dass ich die Trauer als Freundin und nicht als Feindin betrachte. Aber wie könnte ich. Trauern ist für mich Ausdruck von Liebe. Deshalb ist sie meine Freundin.
Die Trauer ist für mich inzwischen wie eine alte Freundin. Manchmal lade ich sie bewusst ein, und manchmal überrascht sie mich.
Es gibt Verluste im Leben, die wie ein gebrochener Knochen sind, der irgendwann wieder heilt. «Ein Verlust wie der unsere hingegen ist nur mit einer Amputation zu vergleichen. Dieser Knochen wächst nie wieder zusammen, und man geht fortan gezeichnet und mit einer Behinderung durch das Leben.» Das schreibt Arne Kopfermann, der seine Tochter bei einem Autounfall verlor. Diese Worte beschreiben für mich sehr gut, wie es sich anfühlt, ein Kinder zu verlieren. Wir sind gezeichnet für unser ganzes Leben.
Als ich Gionas Zimmer im April räumte, seine Kleider in Kisten verpackte und ich viele kleine Dinge sorgfältig in meinen Händen hielt, wurde mir bewusst: Das Kapitel Giona ist vorüber, es ist gelebt. Ich kann es nicht noch einmal leben. Das war sehr schmerzhaft. Gleichzeitig fühlte ich eine grosse Dankbarkeit dafür, dass wir dieses Kapitel bewusst gelebt haben. Obwohl ich trauerte und zweifelte und das Leben manchmal schrecklich war, war es auch wunderschön. Und wie bei einem Buch ein Kapitel auf das andere aufbaut, so baut auch unser Leben auf unser «Giona Kapitel» auf. Seine Spuren sind überall zu sehen. Sein Leben hat uns viel gelehrt.
Unser jetziges Lebenskapitel könnte den Titel «Neuanfang» tragen. Es ist ein Neuanfang für Giona und auch für uns. Ein Neuanfang, der Schmerz und Glück in einem bedeutet. Unser Leben fühlt sich spannend und lebendig an. Ich lebe viel bewusster als früher. Was früher selbstverständlich war, ist es heute nicht mehr. Und so erlebe ich neben der Trauer auch Glück, Genuss und Freude intensiver. Wenn wir traurig sind, bedeutet das für uns nicht, dass es uns schlecht geht. Es ist einfach ein Gefühl, dass zu uns gehört und jeder von uns vier, lebt es auf seine Art.
Wenn wir traurig sind, bedeutet das für uns nicht, dass es uns schlecht geht. Es ist einfach ein Gefühl, dass zu uns gehört und jeder von uns vier, lebt es auf seine Art.
Nachdem Giona gestorben war, wünschte ich mir, wir könnten als Familie in unser Auto steigen und einfach davonfahren. Nur wir vier. Keine Termine, keine Verpflichtungen, keine Schule… Dann wurde uns das, dank Corona, zu Hause geschenkt. Diese Zeit war für uns als Familie sehr heilsam. Es tat uns gut, so viel Zeit zum Träumen, Kuscheln, Spielen, Erinnern, Entspannen und Trauern zu haben. In dieser Zeit konnten wir uns auf unseren Neuanfang einlassen. Jeder seinen Platz finden.
Wird es leichter? Die Trauerwellen werden langsam sanfter und kommen weniger häufig. Ich habe mich irgendwie an Gionas Abwesenheit gewöhnt und einen neuen Weg gefunden, meine Liebe zu ihm zu leben. Doch es gibt auch Momente, da ist überhaupt nichts leichter. Da steigt mein tiefster Schmerz in mir auf, und es wird dunkel um mich. An diesen Tagen lähmt mich die Trauer, und ich bin unfähig, etwas auf die Reihe zu kriegen. Da rebelliert mein Herz gegen die Realität. Da wünschte ich mir, Giona wäre jetzt hier. So wie er war oder noch besser gesund! Weil er durch nichts und niemandem zu ersetzen ist. Manchmal möchte ich auch, dass die Trauer nicht weniger wird. In ihr ist Giona mir besonders nah.
Die Trauerwellen werden langsam sanfter und kommen weniger häufig. Ich habe einen neuen Weg gefunden, meine Liebe zu Giona zu leben.
Ich glaube, dass Trauer jeden Menschen in irgendeiner Form betrifft. Deshalb habe ich mich entschieden, im März eine Ausbildung als Trauerbegleiterin zu beginnen. Ich möchte Menschen gerne auf ihrem Trauerweg begleiten. Und ich wünsche mir, dass Trauern in unserer Gesellschaft kein Tabu bleibt, sondern dass wir offen darüber reden und der Trauer Raum geben dürfen. Das ist gar nicht so einfach. Wir neigen dazu, den Schmerz möglichst schnell loszuwerden. Und so möchten wir auch den Trauernden den Schmerz möglichst wegnehmen. Wenn meine Tochter Giona vermisst und weint, muss ich immer wieder dem Drang widerstehen, sie abzulenken. Was sie in diesen Momenten braucht, ist nicht Ablenkung, sondern dass ich ihre Trauer mit ihr aushalte. Wenn ich lerne, durch den Schmerz hindurch zu gehen statt ihn zu vermeiden, kann ich sogar etwas von ihm lernen. Durch die Trauer habe ich gelernt, dass zum Licht im Leben auch Schatten gehört. Ich lernte, diesen Schatten zu schätzen. Im Licht ist man oft von Unwichtigem geblendet, und im Schatten wird sichtbar, was im Leben wichtig ist.»
*Bearbeitung: Barbara Lauber
Was ist der World Candle Ligthing Day?
"Ein Licht geht um die Welt. Jedes Jahr am 2. Sonntag im Dezember stellen seit vielen Jahren betroffene Familien auf der ganzen Welt um 19 Uhr brennende Kerzen in die Fenster. Während die Kerzen in der einen Zeitzone erlöschen, werden sie in der nächsten entzündet, so dass eine Lichterwelle in 24 Stunden einmal um die ganze Welt geht. Jedes Licht im Fenster steht für ein Kind, welches verstorben ist und für das Wissen, dass diese Kinder das Leben erhellt haben und das sie nie vergessen werden.“
– Worldwide Candle Lighting Day
Genau aus diesem Grund haben wir Giona- vom Trauern und Weiterleben hier platziert.
„Das Licht steht auch für die Hoffnung, dass die Trauer das Leben der Angehörigen nicht für immer dunkel bleiben lässt. Das Licht schlägt Brücken von einem betroffenen Menschen zum anderen, von einer Familie zur anderen, von einem Haus zum anderen, von einer Stadt zur anderen, von einem Land zum anderen. Es versichert Betroffene der Solidarität untereinander. Es wärmt ein wenig das kalt gewordene Leben und wird sich ausbreiten, wie es ein erster Sonnenstrahl am Morgen tut.“
Auch wir von allani wollen Brücken schlagen und erhellen im allani Haus mit betroffenen Familien den Nachthimmel. Da es unkonventionelle Lösungen braucht, wird alles per ZOOM geschehen! Hier der Link dazu:
Thema: *World Candle Lighting Day*
Teil EINS ab 18:30
Zoom-Meeting beitreten
Meeting-ID: 834 1073 3508
Kenncode: jyLGj8
Teil ZWEI ab 19.00
Zoom-Meeting beitreten
Meeting-ID: 813 9666 6223
Kenncode: eqALH0
Comments