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«Das Leben lebenswert gestalten»

Aktualisiert: 3. Okt. 2022

Was brauchen Angehörige eines Kindes mit einer lebensbegrenzenden Krankheit, und was bedeutet Palliative Care bei Kindern? Pflegeexpertin und allani-Stiftungsrätin Simone Keller, berichtet von ihren Erfahrungen.

Sterben ist in unserer Gesellschaft tabu. Wir schweigen die eigene Endlichkeit zeitlebens lieber tot. Wer will denn schon ans Ende denken, wenn das Leben gerade erst anfängt, oder man mittendrin steht? Es erstaunt daher nicht, dass wir den seidenen Faden dank dem medizinischen Fortschritt ganz fest im Griff haben.


In den letzten 100 Jahren hat sich die Lebenserwartung in der Schweiz verdoppelt. Dank unserer qualitativ hochstehenden Gesundheitsversorgung, neuen und innovativen Arzneimitteln und verbesserter Hygiene leben wir Menschen in der Schweiz grundsätzlich länger und gesünder – werden dabei aber auch immer älter.


Keine Frage des Alters

Dass Sterben und Tod jedoch nicht nur im hohen Alter geschehen, ist ebenfalls eine Tatsache. Jährlich sterben in der Schweiz rund 500 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren an Herzkrankheiten, Krebs, neurologischen oder anderen chronischen, lebensbegrenzenden Krankheiten sowie Unfällen. Etwa die Hälfte der Kinder verstirbt im ersten Lebensjahr, die meisten auf der Intensivstation eines Spitals.


«Die Eltern vom Akutspital nach Hause gehen zu lassen, nachdem ihr Kind bei uns gestorben ist, finde ich immer wieder sehr schwierig», sagt Simone Keller. Sie ist Intensivpflegefachfrau, Pflegeexpertin in pädiatrischer Palliative Care und Trauerbegleiterin auf der Kinderintensivstation des Berner Inselspitals. Oft fehle der Raum und die nötige Zeit, um genügend auf die Situation einzugehen. «Auch der Übergang vom Spital nach Hause, wo das Kinderzimmer plötzlich leer bleibt, können wir im Akutspital nicht genügend begleiten», sagt Simone.

Portraitaufnahme von Simone Keller vor einer Backsteinwand
Simone Keller, Pflegeexpertin und Stiftungsrätin von allani

Eine Frage der Würde

Die andere Hälfte der Kinder mit einer lebensbegrenzenden Krankheit sind noch viele Jahre mitten im Leben und unter uns. Mithilfe der heutigen Medizin und Pflege werden sie zehn, fünfzehn Jahre alt oder erreichen gar das Erwachsenenalter. Diese wertvolle Zeit sollen sie selbst, ihre Eltern und Geschwister sowie weiteren Angehörige immer wieder sinnvoll ausfüllen und geniessen können.


«Palliative Care bei Kindern hat somit eine oft andere Bedeutung als bei Erwachsenen. Pädiatrische Palliative Care hat viel mehr mit einem würdevollen Leben zu tun als mit dem isolierten Sterbeprozess an sich. Den Begriff Palliare – also etwas Umhüllen, Ummanteln – finde ich hier besonders passend», so Simone Keller. Betroffene Familien sollten die Zeit lebenswert gestalten können und viele gemeinsame Momente sowie den nötigen Raum für Austausch und Entlastung erfahren dürfen – gerade weil medizinisch so vieles möglich ist. «Aber dafür braucht es das entsprechende Setting zur Unterstützung, wie wir es nun mit dem allani Kinderhospiz Bern realisieren», sagt die Pflegeexpertin.

Belastung auf mehreren Ebenen

Wenn ein Kind schwer krank wird, rücken zahlreiche Dinge in den Hintergrund, manchmal für viele Jahre. Ob die permanente Überwachung des Gesundheitszustandes, das tägliche Verabreichen von Medikamenten, die regelmässigen Spitalbesuche oder das ständige Hoffen und Bangen: Ein schwerkrankes Kind ist eine immense Lebensaufgabe, die immer aus Liebe und mit sehr viel Kraft vollbracht wird.


Aber trotz aller Liebe kann diese Verantwortung das Gesamtgefüge einer Familie auf mehreren Ebenen belasten. Es sind gesundheitliche Beeinträchtigungen der Eltern, Herausforderungen in der Partnerschaft, finanzielle Belastungen durch Krankheitskosten und Erwerbsausfälle oder emotionale Krisen, die über all die Jahre mitschwingen.


Es besteht Handlungsbedarf

Im Idealfall sind betroffene Familien nicht allein, sondern in ein engmaschiges Netz von medizinischer Begleitung und persönlicher Betreuung eingebunden. Trotz der hochentwickelten Medizin und Pflege fällt die pädiatrische Palliative Care oft durch einige Maschen hindurch: Vielerorts fehlen Wissen, Weiterbildungsmöglichkeiten und Richtlinien sowie vor allem die nötige Finanzierung für die Betreuung unheilbar kranker und sterbender Kinder.


Pädiatrische Palliative Care fällt oft durch die Maschen

Während der Bereich Palliative Care für Erwachsene seit Jahren ausgebaut wird, sind spezifische Teams, Abteilungen und entsprechende Orte wie eben ein Kinderhospiz in der Schweiz eher dünn gesät respektive noch gar nicht vorhanden. Im Vergleich: In Deutschland gibt es 20 Kinderhospize.


«Der Ausbau von Versorgungsstrukturen im Bereich der pädiatrischen Palliative Care muss in der Schweiz dringend vorangetrieben werden», spricht die Fachfrau aus Erfahrung. Ebenfalls fehle es an zusätzlichen Entlastungsmöglichkeiten für Familien, damit die Eltern mal verschnaufen und auftanken können.


Genug Zeit, Raum und Energie


«Nebst der professionellen, oft sehr komplexen medizinischen Versorgung ist mir die ganzheitliche Begleitung und Betreuung des Kindes und der Familie ein grosses Anliegen – auch und vor allem dann, wenn Heilung nicht mehr möglich ist», sagt Simone. Während das Kind in einem liebevollen Haus individuell betreut und umsorgt wird, können Eltern einen langen Spaziergang machen, eine ruhige Nacht verbringen oder sich einer beruflichen Tätigkeit widmen. «Das bedeutet für Familien genau das, was sie so dringend brauchen: Genügend Zeit und Raum sowie viel gute Energie für alle Beteiligten.»

 

Simone Keller, Mitglied des Stiftungsrats von allani Kinderhospiz Bern, arbeitet als Intensivpflegefachfrau und Trauerbegleiterin auf der Kinderintensivstation des Berner Inselspitals. Als Fachfrau Palliative Care MAS engagiert sie sich seit vielen Jahren für die Entwicklung der pädiatrischen Palliative Care und ist in den Kinderkliniken Bern mitverantwortlich für den Aufbau eines spezialisierten Teams.

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