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«Angehörige sollen spüren, dass sie nicht allein sind»

Aktualisiert: 14. Juni 2022

Kinder mit einer lebenslimitierenden Diagnose werden oft von ihrer Familie gepflegt, was eine grosse Belastung darstellt. Patrick Schafer ist Theologe und arbeitet als Seelsorger im Inselspital Bern. Gleichzeitig engagiert er sich im Stiftungsrat von allani Kinderhospiz Bern. Im Interview sagt der 48-Jährige, weshalb es für Angehörige wichtig ist, sich Hilfe zu holen, wann Schuldgefühle fehl am Platz sind und welche Rolle das Kinderhospiz dabei spielen kann.

Zwei Erwachsene sitzen auf einem Bett; auf dem Tisch steht eine Vase mit einem verblühten Löwenzahn und eine Packung Taschentücher

Patrick, betreust du als Seelsorger eher Patient:innen oder deren Angehörige?

Patrick Schafer: Grundsätzlich betreue ich sowohl Patient:innen als auch Angehörige. Da ich momentan aber im Kindernotfall sowie in der Kinder- und Erwachsenenintensivstation des Inselspitals Bern arbeite, sind es zurzeit eher Angehörige, die ich begleite.


Weshalb ist das von allani geplante Kinderhospiz gerade auch für Angehörige von grosser Bedeutung?

Patrick: Unser Kinderhospiz ist als Ergänzung zum Spital und zur Kinderspitex zu verstehen. Aktuell gibt es in der Schweiz nichts Vergleichbares, an das sich Familien mit einem schwerkranken oder sterbenden Kind wenden können. Diese Kinder benötigen eine hochspezialisierte Pflege und Betreuung. Wir haben heute die Situation, dass sie grösstenteils von ihren Eltern, Grosseltern oder weiteren Bezugspersonen betreut werden. Dadurch wird das System Familie stark beansprucht. Wir wollen mit dem allani Kinderhospiz Bern Unterstützung und Entlastung bieten – nicht nur gegenüber dem Kind, sondern auch gegenüber Eltern, Grosseltern und Geschwistern.


Portraitaufnahme von Patrick Schafer vor einer grauen Backsteinwand
Patrick Schafer, Seelsorger und Stiftungsrat von allani

Was ist bei der Betreuung von Angehörigen von Kindern mit einer lebenslimitierenden Diagnose besonders wichtig?

Patrick: Angehörige sollten spüren, dass sie nicht allein sind und ein Umfeld haben, das sie unterstützt, wenn sie schwerwiegende Entscheidungen treffen müssen, kräftemässig eine Pause brauchen oder die Kinderbetreuung für einmal abgeben wollen. Es ist wichtig, dass sie Menschen um sich haben, denen sie vertrauen können.


Gäbe es diese Unterstützung und Betreuung nicht auch im Spital?

Patrick: Doch, die gibt es. Der Unterschied zum Kinderhospiz ist aber, dass dem Familiensystem anders Rechnung getragen werden kann. Im Hospiz können Eltern und Geschwister involviert bleiben und so nahe wie zu Hause sein, ohne dabei selbst die Arbeit der Pflege übernehmen zu müssen. So gelingt es ihnen eher, etwas zur Ruhe zu kommen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Das Bild zeigt symbolisch eine Trauerbegleiterin. Sie legt einer weinenden Person die Hand auf die Schulter. Die Tränen fallen in Gläser, mit denen die Begleiterin eine Pflanze giesst.
«Das Kind darf sehen, dass man traurig oder überfordert ist»

Viele getrauen sich nicht, Hilfe zu holen, da sie für das Kind stark sein wollen. Was sagst du denen?

Patrick: Hilfe in Anspruch nehmen, nicht mehr weiterwissen oder vor dem Kind weinen wird von Angehörigen oft als Schwäche angesehen. Ich sage ihnen dann immer, dass sie es zulassen sollen. Das Kind darf sehen, dass man traurig oder überfordert ist. Wichtig dabei ist, mit dem Kind offen und ehrlich darüber zu sprechen. Ihm zu sagen, dass man momentan etwas Mühe hat und sich deshalb Unterstützung holt. So spürt das Kind, dass die Bezugsperson zwar gerade nicht weiterweiss, aber einen Plan hat. Damit die Bezugsperson diesen Plan auch haben kann, braucht sie Sicherheit, und diese Sicherheit kann von aussen, von uns Betreuungspersonen kommen.


Es gibt auch Angehörige, die Schuldgefühle haben, wenn sie sich Hilfe holen oder etwas Gutes tun wollen.

Patrick: Schuldgefühle kommen meistens dann auf, wenn man glaubt, etwas verpasst oder nicht richtig gemacht zu haben. Man fragt sich dann, weshalb man nicht eher etwas gemerkt und früher gehandelt hat. Ich versuche jeweils, diesen Personen gut zuzureden und ihre Handlungen zu würdigen, um ihnen so die Schuldgefühle zu nehmen. Ich sage ihnen dann, dass sie alles Mögliche gemacht haben und es in Ordnung ist, an Grenzen zu kommen und sich einzugestehen, dass man nun andere Kräfte braucht, die einen unterstützen.


Ein Vater liest zwei Kindern vor. Ein Monster, das die Schuldgefühle darstellt, erschrickt sie.
Viele Eltern von Kindern mit lebenslimitierenden Krankheiten haben Schuldgefühle

Wie können Angehörige Mut und Kraft in einer scheinbar hoffnungslosen Situation finden?

Patrick: Oftmals sind es die kleinen Dinge und Momente, aus denen die Menschen Kraft schöpfen. Dies können Begegnungen oder Gespräche sein, manchmal ist es auch nur ein liebes Wort oder ein intensiver Blick des Kindes aus dem Krankenbett, der einem für einen kurzen Moment die Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit nimmt.


Worauf sollten Angehörige von schwerkranken Kindern besonders achten?

Patrick: Sie sollten sich über ihre eigenen Ressourcen im Klaren sein. Überlegen, was ihnen guttut und dies auch so im Alltag einplanen. Wenn ein Elternteil beispielsweise sagt, dass es zwei Stunden pro Woche joggen gehen möchte, dann sollte dem unbedingt Raum gegeben werden und es nicht als egoistisches Abgrenzen angesehen werden.


«Man kommt immer wieder in Situationen, die einen fast umhauen.»

Als Seelsorger führst du viele Gespräche über Leben und Tod. Wie hat diese Arbeit dein Leben verändert?

Patrick: Meine seelsorgerische Arbeit hat mir bewusst gemacht, jeden Moment im Leben so zu nehmen, wie er ist, und ihn zu schätzen. Zudem gilt es, die kleinen Freuden im Leben zu geniessen und das grosse Gut von Zeit und Gesundheit besonders Wert zu schätzen.


Kannst du dich gut abgrenzen?

Patrick: Das muss man als Seelsorger können, sonst kann man den Job nicht machen. Man kommt immer wieder in Situationen, die einen fast umhauen. Man muss spüren, wann man eine Pause oder ein Gespräch braucht. Wir sind zehn Seelsorgende im Team und pflegen regelmässig Gefässe wie Intervision – eine Art kollegiale Beratung – und Supervision – die Reflexion des eigenen Handelns zusammen mit der vorgesetzten Person oder einem/einer Coach.


Was gibt dir bei den vielen tragischen Schicksalen immer wieder Zuversicht und Hoffnung?

Patrick: Es sind auch bei mir die kleinen Momente, die mir Hoffnung und Zuversicht geben. Wenn man sieht, wie eine Familie am Sterbebett Abschied von der Mutter nimmt und dabei so nahe wie nie zuvor zusammenrückt, ist dies ein nicht alltäglicher, intimer Moment, der mich sehr berührt. Ein ähnliches Zusammenrücken kann es auch unter Pflegenden, Ärzten und Betreuenden in einer gemeinsamen Betreuung geben. Es entsteht ein «Wir-Gefühl», was jeweils ein schöner Moment ist.

 

Unterstütze unsere Arbeit für kranke Kinder und ihre Familien

Noch dauert es eine Weile, bis das erste Kinderhospiz der Schweiz seine Türen öffnet. Bereits jetzt bietet die Stiftung allani Kinderhospiz Bern mit den LichtBlick-Wochenenden Entlastung für Familien mit kranken Kindern an. Ausserdem absolvieren 17 Freiwillige eine Basisausbildung in pädiatrischer Palliative Care, die allani gemeinsam mit pro pallium anbietet. Mit zweckgebundenen Spenden kannst du unsere Arbeit unterstützen – zum Beispiel in folgenden Bereichen:



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