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mitten aus dem Leben..


Hendrik, Kleiner Prinz auf Durchreise


Jedes Jahr sterben in der Schweiz fast 500 Kinder. Hendrik ist eines von ihnen. Seine seltene Stoffwechselstörung und die intensive Pflege haben das Leben seiner Eltern unumkehrbar auf den Kopf gestellt. Die gemeinsame Reise fühlte sich an wie eine Fahrt auf einem sinkenden Schiff. Ohne Aussicht auf Rettung. Es war die bedingungslose Liebe zu Hendrik, die die Eltern vor dem Ertrinken gerettet hat.


Von Barbara Lauber


Vielleicht, sagten die Ärztinnen, werde Hendrik seinen ersten Geburtstag nicht erleben. Der Junge, feingliedrig und mit weizengelbem Haar wie der Kleine Prinz, war gerade 5 Monate alt geworden. Seine Eltern hörten den Ärztinnen zu, still, ungläubig, und versuchten zu begreifen. Menkes-Syndrom. Stoffwechselkrankheit. Eine Genmutation, die weltweit noch nirgends dokumentiert war. Nicht therapierbar.



Das sinkende Schiff

Auf einmal ergab vieles Sinn. Hendriks stundenlanges Schreien bis zu Erschöpfung. Seine ständige Unruhe, auch nachts. Sein plötzliches Verdrehen der Augen und neu seine ruckartigen Krämpfe. Sarah von Gunten und ihr Mann Urs Bernhard waren davon ausgegangen, dass ihr Sohn einfach noch etwas Zeit braucht, um auf dieser Welt anzukommen und sich von der schweren Geburt zu erholen. Dabei war er bereits dabei, sich zu verabschieden.

Sarah von Gunten sieht ein langsam sinkendes Schiff vor sich, wenn sie an die Zeit mit Hendrik zurückdenkt. Ein leckes Schiff, in dem sie mit ihrem Mann und Hendrik sitzt, und zu Beginn verzweifelt Wasser schöpft, Wasser, das schneller ins Schiff fliesst als sie schöpfen kann. «Ich wusste, egal was wir tun, es würde nicht reichen, Hendrik würde sterben», sagt sie. Doch Hendrik erlebte nicht nur seinen ersten Geburtstag, sondern auch seinen zweiten. Und beinahe auch seinen dritten. «Hendrik war viel länger bei uns als erwartet», sagt Sarah von Gunten und lächelt. «Ich glaube, er ist so lange geblieben, weil ihm sein Leben trotz allem gefallen hat. Und weil er sich bei uns wohl gefühlt hat.»


Grenzen verwischen

Nach Hendriks Diagnose hört Sarah von Guntens nahezu auf, als eigenständiger Mensch zu existieren. Die Grenzen zwischen ihr und Hendrik verwischen. Sie lebt im Takt seiner Bedürfnisse, verliert sich selbst aus den Augen, steckt ihre Wünsche in die dunkelste Ecke. «Mir war klar: Jetzt geht es nur darum, was für Hendrik gut ist. Und nicht darum, was wir uns wünschen. Ich wollte, dass er es gut hat, solange er bei uns ist.» Es ist wie ein Blindflug, für Sarah von Gunten wie für ihren Mann. Da gibt es keinen Moment zum Ausruhen. Zum Miteinander-in-Verbindung-Bleiben, zum einander Wiederfinden. Beide kämpfen darum, es irgendwie zu schaffen. Und dabei nicht unterzugehen.

«Wir fühlten uns wie in einem Vakuum, kamen kaum zum Atmen. Doch wir gewöhnten uns auch daran. Und merkten gar nicht, in welchen Sog wir geraten waren.» Sarah von Gunten und ihr Mann finden langsam zu einem neuen Alltag in einer klein gewordenen Welt. Er steht frühmorgens im Stall, hält den Bauernbetrieb am Laufen und kümmert sich um das grosse Stallneubauprojekt. Sie pflegt Hendrik rund um die Uhr, tröstet, beruhigt, verabreicht Medikamente, Valium, Dormicum, Morphium, lernt von der Kinderspitex, kocht und führt den Haushalt. Nach dem ersten Geburtstag beginnt Sarah von Gunten, Hendrik die Nahrung über eine Magensonde zu geben, fünf- bis zehnmal pro Tag, weil er nur kleine Portionen verträgt.


Sprache ohne Worte

«Mich hat die bedingungslose Liebe zu Hendrik getragen», sagt Sarah von Gunten. «Ich wurde nie ungeduldig oder ärgerlich. Ich fand, Hendrik hat diese Liebe verdient in der Zeit, die er noch da ist.» Hendrik kann nicht sitzen, sich nicht auf die Seite rollen, nicht greifen. Zufrieden wirkt er, wenn er ins Stillkissen gebettet liegt. Wenn er glänzende, glitzernde Dinge, Lichterketten und sein Mobile sieht. Oder wenn er das Plätschern des Brunnens oder Musik hört. Sarah von Gunten lernt, Hendrik zu lesen und seine Lautsprache, seine Mimik und Gestik zu verstehen. «Mir kam es vor, als ob ich eine neue Sprache lerne, eine ohne Worte.»

Kinderspitex, Freunde, Geschwister unterstützen die Familie. Ein halbes Jahr nach der Geburt suchen Sarah von Gunten und Urs Bernhard endlich eine Entlastung für eine Nacht pro Woche. Die Ärztinnen haben dies bereits nach der Diagnose dringend empfohlen. Weil die Betreuung immer intensiver wird, muss Hendrik mehrmals die Institution wechseln – bis er in einer Kinderwohngruppe im Z.E.N. Biel (Zentrum für Entwicklungsförderung und pädiatrische Neurorehabilitation der Stiftung Wildermeth) einen Platz erhält.



Ein kleiner Mensch berührt

Zuerst bleibt Hendrik zwei Nächte pro Woche im Z.E.N. Weil seine Pflege immer intensiver wird und er Morphium erhält, werden seine Aufenthalte in Biel länger. Als Hendrik zweieinhalbjährig ist, beschliessen seine Eltern, dass er ganz im Z.E.N. leben soll. «Die Kinderwohngruppe war das grösste Glück auf unserem Weg», sagt Sarah von Gunten. «Das Essen mit anderen Kindern, der Therapiehund, die Besuche der Theodora-Traumdoktoren, die grossherzigen Menschen, die Musiktherapie – das alles war ein Geschenk.» Sarah von Gunten fährt fast täglich nach Biel und verbringt die meiste Zeit bei Hendrik. «Das war alles, was ich für ihn tun konnte.»

Hendrik ist das Nesthäkchen in der Wohngruppe, wird umsorgt und geliebt. «Er war eine grosse Persönlichkeit und hat alle Menschen berührt, die ihm begegnet sind», erzählt Sarah von Gunten. Doch Hendrik wird immer schwächer, hat Probleme mit Atmen und erlebt immer öfter epileptische Anfälle. «Wir wussten von Anfang an, dass keine Hoffnung auf Besserung besteht», sagt Sarah von Gunten. «Unser Trauerprozess begann deshalb unbewusst schon nach der Diagnose. Wir verabschiedeten uns als erstes von unserem erträumten Leben als Familie. Und obwohl wir uns das Ende nie wirklich vorstellen konnten und wollten, verabschiedeten wir uns in ganz kleinen Schritten auch von Hendrik.»


Gehen in Etappen

Wenige Tage vor Hendriks 3. Geburtstag kommt er schliesslich, der Anruf, vor dem sich Bernhards gefürchtet haben. Sie erfahren, dass es Hendrik nicht gut geht, fahren sofort nach Biel – und bleiben. «Wir pendelten zwischen Schmerz und Dankbarkeit, Ruhe und Verzweiflung. Manchmal weinten wir, manchmal lachten wir. Es waren die intensivsten drei Tage meines Lebens», sagt Sarah von Gunten. Hendrik öffnet seine Augen kaum mehr. Trotzdem kommt es ihr so vor, als hinge noch ein Zipfel seiner Seele auf der Erde fest.

Am 30. Juli 2012, kurz vor 7 Uhr, hört Hendrik nach einem schweren epileptischen Anfall auf zu atmen. «Uns blieb das Herz fast stehen. Wir wussten, nun ist es soweit. Wir blieben kurz still an seinem Bett stehen und holten dann die Pflege. Doch kurz bevor der Arzt kam, geschah etwas Sonderbares: Hendrik begann wieder zu atmen, und sein Körper wurde rosig. Ich bin immer noch ganz ergriffen, wenn ich daran zurückdenke.» 3 Stunden später verlässt Hendrik endgültig diese Welt. Sein Papa liegt neben ihm im Bett. Sarah von Guten hat 4 Minuten vorher das Zimmer verlassen. «Ich hatte das Gefühl, die beiden müssten allein sein, und machte kurz einen Telefonanruf. Ich bin dankbar, dass ich ihnen diesen Raum gegeben habe.»




Nichts ist wie es war

Seit Hendriks Tod sind achteinhalb Jahre vergangen. Viele davon waren schwer, dumpf und dunkel. «Der Weg zurück zu mir und zurück ins Leben war ein sehr langer. Ich habe ihn hart erkämpft, ich fühlte mich lange wie gelähmt», sagt Sarah von Gunten. Seit einem halben Jahr hat sie endlich das Gefühl, nicht mehr immer nur kämpfen zu müssen, wieder im Leben zu stehen und Energie zu haben. «Durch Hendrik habe ich gelernt, wer ich bin und was ich kann. Ich lebe heute stärker im Moment und spüre, wie mein Umfeld mich trägt und zu mir hält.» Ihr Mann und sie haben sich ein halbes Jahr nach Hendriks Tod getrennt. Nach dem Danach gab es für beide kein Zurück mehr. Heute arbeitet Sarah von Gunten Vollzeit als Kindergärtnerin. Und auch dabei kommt ihr ihre Erfahrung zugute: «Ich weiss, dass jedes Kind absolut richtig ist, wie es ist. Diese Haltung schafft auch bei den Eltern viel Vertrauen.»

Obwohl sie wieder im Leben steht, weiss Sarah von Gunten: «Mein Leben wird nie mehr so sein, wie es war. Die Intensität des Schmerzes bleibt, auch wenn er nicht mehr so präsent ist wie früher. Mein vierjähriger Neffe hat mal zu mir gesagt: Gell, im Herzen sind Hendrik und du immer zusammen. Ich nickte, denn genau so fühlt es sich an: Hendrik und die Trauer um ihn bleiben ein Teil von mir. Gleichzeitig weiss ich heute, dass ich auch ohne Kind ein glückliches Leben haben kann. Einfach eines mit Licht und Schatten.»





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